Ein Ruf im Wald. Eine Zahl, die wiederkehrt. Ein Kreis, der nie ganz geschlossen ist.

In Das Muster – Die Gottheit folgen John und Kate den letzten Fäden, die sie durch Hallen, Rituale und Echos führen – bis dorthin, wo das Geflecht seinen Ursprung hat. Was als Suche nach Antworten beginnt, wird zur Begegnung mit etwas, das größer ist als Sinn und kleiner als Hoffnung.

Es gibt Orte, an denen die Welt dünn wird. Und es gibt Namen für das, was dann hindurchtritt. Manche nennen es Muster.


Kapitel 1 – Der Ruf

Der Wald war zu still. John blieb auf dem matschigen Pfad stehen, Hände auf die Knie gepresst, und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er war nur laufen gegangen, wie so oft. Doch heute zog etwas an ihm, ein wortloses Ziehen, das keine Richtung erklärte und doch eine bestimmte meinte.

Hinter dem dichten Geäst stand die alte Weide wie ein Wächter. Ihr Stamm schimmerte feucht, als hätte ihn jemand eben erst berührt.

„Du spürst es auch, oder?“ Kates Stimme kam von hinten. Sie trat neben ihn, den Mantel eng um die Schultern, den Blick auf die Weide geheftet.

„Es zieht dich her“, sagte John heiser. „Genau wie mich.“

„Seit Tagen die gleichen Träume.“ Sie schluckte. „Immer dieselbe Zahl: 9.4.1.“

Kaum ausgesprochen, flackerte etwas im Stamm: Linien, ein kurzer Kreis, weg. Die Luft schmeckte metallisch wie vor einem Gewitter.

„Es ist Zeit“, flüsterte Kate. „Wir werden zurückgerufen.“

John wollte sagen, dass sie genug ertragen hatten. Aber das wäre gelogen gewesen. Das Muster ließ niemanden gehen, den es einmal berührt hatte. Und jetzt rief es sie zurück.


Kapitel 2 – Die Zahlen

Sie saßen einander gegenüber, das alte Notizbuch zwischen ihnen. Vergilbte Seiten, brüchiger Einband, Schrift, die nie ganz ruhte. Kate fuhr mit dem Finger über die Einträge:

3.3.6
7.1.4
9.4.1

„Kein Zufall, kein Code für Eingeweihte. Es sind Ereignis-Marker“, murmelte sie. „Zyklen.“

„3.3.6 – Joy,“ sagte John leise. „7.1.4 – das Exemplar. 9.4.1… ist jetzt.“

Am Rand standen Splitterworte: Opfer. Tor. Halle.

„Immer drei,“ sagte Kate, und der Wind rüttelte an den Fensterläden. „Drei Menschen. Drei Stimmen.“

John schloss das Notizbuch. „Wenn die Zahlen Zyklen sind, füttern die Rituale das, was hinter allem steht.“

„Und die Opfer…“ Kate stockte. „…verschwinden nicht. Sie bleiben gebunden.“

Etwas in der Wand antwortete. Es klang wie viele Stimmen, die denselben Takt flüsterten: Neun. Vier. Eins.


Kapitel 3 – Die Echos

In der Nacht standen sie wieder vor der Weide. Das Licht der Taschenlampe war zu dünn für diese Dunkelheit. Die Luft roch nach nassen Blättern und Wachs.

„Hörst du das?“ fragte Kate.

John hielt den Atem an. Ein Wispern, fern und nah zugleich.

Tom.
„Geht nicht weiter… ihr kommt nicht mehr zurück.“

Lucy.
„Hört zu… wir sind Teil davon… es will mehr.“

Die Lampe zuckte, warf ein kurzes Oval in die Büsche. Zwei Gestalten wie hinter Glas – Tom und Lucy. Augen leer, Münder offen. Dann nichts.

John kniete, tastete den Wurzelgrund ab. In den Boden waren feine Linien geritzt: Kreise und Striche, die zum Stamm führten.

„Ritualzeichen“, sagte Kate. „Und frisch.“

Das Flüstern verschränkte sich zu einem Chor: „Neun… vier… eins…“ Die Weide knarrte, als lache sie.

„Sie warnen uns nicht nur“, sagte John. „Sie weisen.“


Kapitel 4 – Das neue Ritual

Direkt am Stamm lag der Schnitt in der Rinde: drei ineinander verschlungene Kreise. Warm, als würde darunter Blut pulsieren. Der Geruch von verbranntem Wachs war plötzlich deutlich.

„Der Orden war hier“, sagte John.

„Und der Kreis ist nicht abgeschlossen,“ flüsterte Kate.

Etwas vibrierte in der Luft, ein kurzes Anhalten der Welt. Zwischen den Wurzeln glimmte es, als stünde dort Licht hinter dünner Haut. Es war nicht Tom, nicht Lucy. Etwas anderes war nah – älter, hungriger.

Die Worte kamen kalt, klar, in beide Köpfe zugleich: „Es ist noch nicht vollendet.“


Kapitel 5 – Das Dorf

Das Dorf atmete flach. Über dem Türrahmen der alten Schenke war das Dreifachzeichen eingeritzt. Drinnen roch es nach Bier, Rauch und Verheimlichtem. Keiner sah sie direkt an, und doch fühlten sie Blicke.

Am Tisch klebte frisches Holzgeritzel: 9.4.1.

Der Breitschultrige vom Tresen hob den Blick, und unter seiner Kapuze blitzte das Dreifachzeichen auf der Haut. Ein angedeutetes Lächeln. Dann ging er hinaus.

„Keine Warnung“, sagte John. „Eine Einladung.“

„Oder eine Drohung“, entgegnete Kate. Beides traf.


Kapitel 6 – Die Einladung

Der Umschlag lag auf dem Küchentisch, wo vor einer Stunde keiner gelegen hatte. Beige, unscheinbar. Innen: das Dreifachzeichen und ein einziges Wort.

Mitternacht.

Sie standen zur verabredeten Stunde am alten Brunnen. Aus den Gassen glitten Schatten, Kapuzen, Laternen mit rötlichem Licht. Die Gestalten stellten sich im Kreis.

Der Breitschultrige trat vor, Narben über den Wangenknochen, Augen wie kalt gewaschener Stein. Auf der Stirn das Zeichen – in die Haut geritzt.

„Ihr seid erwählt“, sagte er. „Nicht von uns. Vom Muster.“

„Was wollt ihr?“ Kates Stimme war kleiner, als sie wollte.

„Wir wollen nichts. Wir dienen nur. Folgt – oder bleibt. Aber vergesst nicht: Das Muster vergisst niemanden.“

Der Kreis öffnete sich wie ein Maul in Richtung Felder.


Kapitel 7 – Der Weg

Sie wurden aus dem Dorf geführt, zwischen Feldern und Hecken hindurch. Der Mond hing bleich, die Laternen glommen rötlich.

Die Silhouette des Bauernhauses tauchte auf. Verkrümmte Balken, schwarze Fensterhöhlen.

„Nicht hier“, sagte John. „Nicht wieder hier.“

„Ihr kennt seine Geschichte“, sagte der Breitschultrige.

„Wir kennen ihr Ende.“ Johns Stimme schnitt knapp. „Sie sind hier gestorben. Wahnsinnig geworden.“

„Nein.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Sie sind erwacht.“

Drinnen brannten Kerzen. In der Mitte lag ein frisch gezogener Wachs-Kreis, Knochen waren sauber arrangiert, auf einem Podest lag ein Buch – Zeichen, die niemals ruhen.

„Jeder Kreis ist nur ein Teil“, sagte der Mann. „Ihr steht am Rand des nächsten.“

Das Echo von Tom und Lucy rauschte an den Wänden entlang: „Es beginnt von Neuem.“


Kapitel 8 – Das Ritual

Die Kapuzen formierten den Kreis. Der Singsang begann, tief, monoton, ohne Sprache, nur Absicht. Zwei trugen einen jungen Mann herein, gefesselt, geknebelt, kaum älter als zwanzig.

„Nein“, hauchte Kate.

Die Klinge des Breitschultrigen trug selbst ein Muster. Ein Schnitt – Blut tropfte in das Wachs, das sofort zu glimmen anfing. Der Boden vibrierte, Schatten krümmten sich an den Wänden zu etwas Eigenem. Stimmen setzten ein, hunderte, als tropfe der Raum selbst von Lauschen.

Mehr. Mehr.

Der Körper sank in den Kreis, als hätte der Boden die Dichte von Fleisch. Dann war er fort. Stille, schwer wie Blei.

„Ein Tropfen,“ sagte der Breitschultrige, die Klinge noch dunkel. „Das Muster verlangt Ströme.“

Sein Blick fand John und Kate. „Eure Zeit wird kommen.“


Kapitel 9 – Die Namen
Aus dem Schrank holte er Mappen, ordentlich beschriftet. Er warf eine auf den Tisch. Fotos fielen heraus: verwackelte Kreise, Gesichter voller Angst, Ränder mit Kreideschlieren.
Auf der ersten Seite standen drei Namen:
Jason. Mia. Nicole.
Kates Hand zuckte. „Sie…“
„Ihre Leben öffneten den Kreis, den ihr eben gesehen habt“, sagte der Breitschultrige gleichmütig. „Jedes Ritual verlangt drei. So ist es. So war es. So wird es bleiben.“
Er blätterte weiter. Weitere Dreiergruppen, weitere Gesichter, Striche am Rand, Zahlen, die den Atem nahmen.
„Warum wir?“ fragte Kate.
„Weil ihr den Faden aufgenommen habt“, sagte er. „Niemand berührt das Muster, ohne Teil davon zu werden.“
Die Mappe schlug zu. In Johns Kopf rauschte es wie Wasser in einer Tiefe ohne Grund. Für den Hauch eines Herzschlags glaubte er, Jason, Mia und Nicole zu hören.
Wir waren vor euch. Ihr seid die Nächsten.


Kapitel 10 – Der Plan

Sie sperrten John und Kate in eine steinerne Kammer, vergittertes Fenster, feuchte Luft. Draußen tuschelten Wachen. Drinnen roch es nach alter Erde und altem Schweiß.

„Morgen“, flüsterte Kate. „Wir sind morgen dran.“

John blätterte im Notizbuch, als könne Papier eine Tür sein. Zwischen Zahlen stand ein Satz, den er noch nie gesehen hatte:

„Wer den Kreis verlässt, bevor er geschlossen ist, entkommt – doch nur im Schatten des Vollmonds.“

„Heute ist Vollmond“, sagte er. „Wir versuchen es.“

„Vielleicht ist das eine Falle.“

„Dann sterben wir so oder so.“

Sie warteten, bis das Schnarchen der Wachen durch die Tür vibrierte. Das Gitter rostete unter ihren Händen, gab mit einem kreischenden Seufzer nach. Sie rutschten hinaus, fielen in nasses Gras, rannten los.

Der Mond stand kalt, klar. Für einen Atemzug glaubten sie, frei zu sein. Dann setzte das Flüstern ein, dichter, schwerer.

Niemand entkommt.

„Lauf“, sagte John. „Lauf!“


Kapitel 11 – Der Schein der Freiheit

Der Wald schwieg. Sie wagten anzuhalten, lehnten sich keuchend gegen einen Stamm. Der Vollmond schickte milde Kälte.

„Wir haben es geschafft“, hauchte Kate. „Wir sind draußen.“

John wollte nicken. Doch das Notizbuch war warm in seiner Tasche. Er schlug es auf. Alle Seiten waren leer. Nur ein Satz stand da, frisch, dunkel:

„Das Muster endet nicht im Kreis. Es ist überall.“

Der Wind krümmte die Zweige. Schatten wurden Gesichter. Das Rascheln der Blätter formte Worte:

Ihr gehört uns.

Sie rannten. Bäume wiederholten sich, Wege führten im Kreis. Es war draußen – und doch eine Halle. Ohne Mauern, ohne Tür. Nur mit ihnen in der Mitte.

Und etwas lachte. Überall.


Kapitel 12 – Offenbarung

Die Lichtung lag wie eine offene Wunde unter dem Vollmond. Das Licht war blutig, als läge Haut darüber. Die Schatten der Bäume hörten auf, sich wie Schatten zu bewegen; sie bekamen Körper.

Etwas trat hervor.

Es hatte keine Form, die ein Mensch hätte benennen können, und doch war alles daran benennbar: Linien, Zahlen, Adern, die pulsierten; Flügel wie ein Schmetterling, gewebt aus Knochen und Fleisch, die Oberfläche ein unendliches Labyrinth, das sich fortwährend verschob.

Die Stimme sprach nicht – sie war in ihnen.

Ich bin das, was ihr Muster nennt.

Kate schrie, hielt sich die Ohren zu, vergebens. John sah Bilder, die nicht seine waren: alle Rituale, alle Opfer, alle Namen, alle Kreise, Blut, Kreide, Kerzen.

Seit Jahrhunderten füttert ihr mich. Jeder Kreis, jede Zahl ist eine Ader. Und nun seid ihr dran.

„Nein“, brachte John hervor, aber seine Zunge gehorchte nicht mehr. Kates Lachen war plötzlich hell und weit weg.

„Es ist vollkommen“, sagte sie, und ihre Augen wurden schwarz – nicht Farbe, sondern Tiefe. Sie trat in den Mondkreis und löste sich in Linien auf, in Form, in Muster.

Die Gottheit beugte sich über John. Der Boden unter ihm wurde weich, warm, pulsierend.

Du wirst mich tragen. Wie sie alle.

Sein Geist zerbrach. Stimmen drängten durch ihn hindurch, nicht vorbei. Er sah noch Kates Gestalt, die keine mehr war – nur Rauschen aus Struktur – und dann war auch er ein Faden im Gewebe.

Der Wald blieb zurück. Die Lichtung war leer. Der Mond sah kalt zu.

Das Muster hatte neue Opfer.

 

ENDE!