📘 Ein Traum. Ein Strand. Eine Leiche.
Für die Lehrerin Nancy Richter beginnt damit eine Kette von Ereignissen, die sie tief in das Netz des Musters zieht. Gemeinsam mit ihrem Schüler Luca und der Forscherin Kate stößt sie auf alte Akten, die bis ins Jahr 1970 zurückreichen – Spuren einer Wahrheit, die niemals ans Licht kommen sollte.

Doch je tiefer sie in die Vergangenheit eintauchen, desto deutlicher zeigt sich: Das Muster ist kein Relikt der Geschichte. Es lebt. Es bewegt sich. Und es sucht sich seine Figuren.

Während die drei in Archiven, Träumen und dunklen Hallen Antworten suchen, formt sich eine neue Bedrohung – größer, gnadenloser und unaufhaltsamer als zuvor.
Alles läuft auf einen Punkt hinaus. Eine Entscheidung, die nur Nancy treffen kann.


Kapitel 1 – Nancys Traum
Im Traum war das Meer glatt wie Glas. Kein Wind, kein Geschrei der Möwen, nur ein Atem, der von irgendwoher kam und das Wasser ganz leicht hob und senkte. Ein Mann schwamm parallel zum Ufer. Ruhige Züge, die die Oberfläche schnitten, als schultere er eine unsichtbare Last.
Nancy stand am Strand und konnte ihre eigenen Fußspuren nicht sehen. Der Sand war zu dunkel, als hätte die Nacht beschlossen, hier zu bleiben. Sie hob die Hand, wollte rufen, doch die Stimme blieb im Hals stecken, wie unter Wasser.
Der Mann drehte den Kopf, als hätte er etwas gehört. Für einen Moment sah sie sein Gesicht—oder glaubte es zu sehen—und alles daran war normal, erschreckend normal. Dann veränderte sich die See. Kein Sturm, kein Brechen der Wellen, nur ein veränderter Takt. Dreimal hob sich die Fläche ganz fein, Pause. Wieder dreimal, Pause. Als würde das Meer zählen.
Der Schwimmer kam aus dem Rhythmus. Seine Arme wurden kürzer, sein Blick suchte einen Punkt, den es nicht gab. Nancy rannte los, aber ihre Beine waren schwer, jeder Schritt versank, und der Strand schob sich unter ihr weg wie ein Laufband, das jemand anders bediente.
„Hier!“ hörte sie sich sagen, doch das Meer reagierte nicht. Der Mann tauchte unter. Ein ringsum geschlossener Kreis, dort wo er eben noch gewesen war. Stille. Dann stieg etwas auf, langsam, unaufhaltsam, als hätte das Wasser seine Schuld zurückgegeben.
Er trieb auf sie zu, Bauch nach unten. Eine Welle hob den Körper, legte ihn näher an den Strand. Das Wasser lief ab, und was blieb, war Haut, bleich, mit einer Linie nassen Sandes, der an ihm klebte. Nancy kniete sich hin, obwohl sie wusste, dass das hier nicht geschehen konnte, nicht auf die Art, wie Träume sich wehren. Sie drehte seine Hand. Auf dem Handrücken lag eine eingeritzte Markierung, schmal und sauber, als mit einer sehr ruhigen Bewegung gesetzt: drei flache Bögen, nebeneinander, jede Linie ein wenig versetzt, wie Wellen, die sich gegenseitig jagen.
Sie hob den Blick. Das Meer war wieder glatt. Kein Wind, kein Möwenruf. Nur die Markierung brannte in ihrem Kopf. Drei Bögen. Eine Pause zwischen ihnen, klein wie ein Atemholen.
Als sie aufsah, stand eine Gestalt weiter draußen im Wasser. Nicht schwimmend, nur da. So still, dass die See um sie herum fester zu sein schien. Ein dunkler Mantel ohne das Gewicht von Stoff. Nancy blinzelte, und die Gestalt war verschwunden, als hätte sie nur eine Vertiefung in der Oberfläche beobachtet.
Der Mann am Strand öffnete die Augen. Nicht weit, nur einen Spalt—genug, dass ein Streifen dunkler Iris auftauchte, in dem sich das graue Licht des Himmels fing. Er sah sie nicht an. Er sah über sie hinweg, in eine Richtung, die es im Traum nicht gab.
Der Takt der See setzte wieder ein: drei feine Hebungen, Pause. Nancy versuchte zu atmen und wachte.
Der Raum war hell vom Telefon, das auf dem Nachtisch vibrierte. 04:12. Die Heizung knackte, als ob sie zuhörte. Nancy lag auf dem Rücken und brauchte einen Moment, um den Geschmack von Salz wieder aus dem Mund zu bekommen.
Sie setzte sich auf. Ihr T-Shirt klebte am Rücken. In der Stille gab es kein Meer, nur das Ticken der Uhr in der Küche und den schweren Beat ihres Herzens, der zu laut war für eine Wohnung, in der niemand auf sie wartete. Lehrerin, dachte sie, und war überrascht, dass das Wort so normal klang. Heute Doppelstunde Geschichte, Prüfungsvorbereitung, Elternabend. Dinge, die die Welt in einem Rahmen hielten.
Sie stand auf, ging zur Spüle, ließ Wasser laufen, trank. Auf der Fensterbank lag Kreide—eine Macke aus dem Lehrerzimmer, immer wanderten Stifte und Kreide in ihre Taschen. Sie nahm ein Stück, ohne darüber nachzudenken, und zog auf der schwarzen Schieferplatte neben dem Herd drei Bögen. Einer über dem anderen. Schmal, fast identisch. Als sie den Arm sinken ließ, merkte sie, dass die Hand zitterte.
„Es war nur ein Traum“, sagte sie leise, damit die Küche es hörte.
Das Telefon vibrierte wieder. Eine Push-Meldung, lokal. Unbekannte Person am Stadtstrand angespült. Kein Foto, noch nicht. Nur Text: Polizei bittet um Hinweise. Sperrung eines Abschnitts in den frühen Morgenstunden. Nancy fixierte den zweiten Satz, las ihn zweimal, dreimal. Das Meer in ihrem Kopf machte die drei kleinen Hebungen, Pause.
Sie legte das Telefon weg, schloss die Augen, zählte. Bei fünfzehn sah sie die Hand des Mannes wieder, die eingeritzten Bögen, sauber gesetzt, zu sauber für etwas, das das Meer hätte zeichnen können.
In der Schule konnte sie schweigen. Sie hatte geübt. Es gab für alles eine Schublade, und wenn man die richtige zuerst öffnete, fielen die anderen still zu. An diesem Morgen blieben die Schubladen angelehnt. Der Bus kam zu spät, die Luft war zu warm für Februar, und an der Haltestelle regnete es, obwohl am Himmel kein Wolkenrand zu sehen war.
Ein Junge mit Skateboard stieg ein, setzte sich gegenüber. Er hielt sein Handy so, dass die ganze Reihe es sehen konnte. Überschrift, groß: Rätsel um Wasserleiche. Darunter ein Kommentar, der nichts wusste und alles behauptete. Nancy schaute aus dem Fenster und sah in der beschlagenen Scheibe ihre Hand, wie sie mit dem Daumen drei Bögen wischte, die sofort wieder verschwammen.
„Es war nur ein Traum“, sagte sie noch einmal, ohne den Mund zu bewegen.
Im Lehrerzimmer roch es nach Kaffee und Papier. Frau Lehmann nickte ihr zu, jemand lachte über etwas, das gestern schon alt gewesen war. Nancy nahm ihre Tasse, kippte Milch hinein, sah der hellen Spirale zu, die nach zwei Runden in drei feine Streifen zerfiel. Sie stellte die Tasse ab, stärker als nötig, und Milch lief über den Rand. Drei Tropfen auf die Tischplatte, Pause. Drei, Pause. Drei.
„Alles gut bei Ihnen?“ fragte jemand hinter ihr.
„Ja“, sagte sie zu schnell. „Nur schlecht geschlafen.“
Im ersten Block sprach sie über Quellenkritik. Wer was warum schreibt, wie man überprüft, wann ein Datum ein Datum ist und wann eine Geschichte nur so tut, als wäre sie Wirklichkeit. In der dritten Reihe gähnte ein Mädchen, leise und höflich. Nancy schrieb drei Begriffe an die Tafel, klärte, was davon Interpretation, was belegbar war. Als sie sich umdrehte, sah sie im oberen Strich des E das Meer. Dumm. Eben. Sie wischte es weg.
In der Pause blieb sie allein im Klassenzimmer sitzen. Das Telefon lag auf dem Pult, dunkel, aber schwer. Sie drehte es um, öffnete die Meldung noch einmal. Jetzt gab es ein Foto. Nur den Strand, kein Körper. Ein Streifen Polizeiabsperrband, eine Schaufel im Sand, die jemand vergessen hatte. Das Meer dahinter matt und unschuldig.
Nancy zoomte in die Kante, wo das Wasser auslief. Im Schaum hatten sich Linien gesetzt. Nicht scharf, nur eine Andeutung. Drei Bögen, der mittlere etwas kürzer.
Sie atmete aus, langsam, bis es in der Brust wehtat. Dann speicherte sie das Bild, obwohl es nichts bewies.
Nach dem Unterricht blieb sie am Fenster stehen. Der Himmel hatte mittags die Farbe, die er sonst im November trug. Über dem Dach der Sporthalle flog ein Schwarm kleiner Vögel, drehte und setzte sich geschlossen in Bewegung, als hätten sie einen Takt. Dreimal kreisten sie, Pause. Wieder dreimal, Pause. Nancy lachte ohne Humor. Die Welt kannte ihren Witz.
Sie packte ihre Tasche. Auf dem Pult lag die Kreide, als hätte sie sie hier gelassen. Sie nahm sie mit und steckte sie in die Manteltasche, weil man manchmal Dinge bei sich haben musste, die beweisen konnten, dass die eigene Hand die Linien gemacht hatte.
Vor der Schule stand der Wind falsch. Keine Richtung, nur ein Druck, der kam und ging. Nancy blieb einen Moment stehen und wusste, noch bevor der Gedanke ganz war, dass sie heute nicht nach Hause, sondern zum Strand fahren würde. Nicht, um zu sehen, ob der Traum stimmte—das Foto hatte das schon erledigt—sondern um zu prüfen, ob der Boden dort dasselbe Geräusch machte wie in ihrem Kopf.
Als sie losging, vibrierte das Telefon zum dritten Mal. Eine unbekannte Nummer, eine Nachricht ohne Absender: „Nicht allein gehen.“ Kein Link, kein Name, kein weiterer Text. Sie blieb mitten auf der Treppe stehen. Die Schule war hinter ihr laut, der Hof vor ihr leer. Sie wollte antworten, tippte ein Wer ist da? und löschte es wieder.
Sie steckte das Telefon weg und fuhr. Die Ampeln schalteten in einem Rhythmus, der nicht zu den Autos passte. Auf der Brücke über den Fluss sah sie im Wasser drei helle Streifen, als hätte jemand das Licht mit einem Messer geteilt. Der Himmel tat, was er immer tat: so tun, als sei hier nur Wetter.
Am Strand standen zwei Polizisten und sprachen mit einer Frau, die den Hund hielt, als bräuchte sie ihn als Beweis. Absperrband, das im Wind flatterte. Ein Abschnitt war offen. Jemand hatte entschieden, dass die Welt weitergehen durfte.
Nancy blieb am Rand des trockenen Sands stehen. Von hier aus sah sie das Meer. Es war nicht glatt, nicht rau—nur aufmerksam. Sie trat näher, bis ihre Schuhe nass wurden. Eine Welle kam, gab ein Stück Muschel frei und nahm es wieder mit. In der Gischt zeichneten sich drei flache Bögen ab, lösten sich, formten sich neu. Die Linien hielten einen Atemzug länger als sie sollten.
„Gut“, sagte Nancy leise, und das Wort meinte niemanden. „Ich habe dich verstanden.“
Sie hob die Hand, nicht als Gruß, sondern um sich zu vergewissern, dass sie noch eine Form hatte in einer Welt, die gerade mit Mustern schrieb. Dann drehte sie sich um, ging zurück zur Treppe und nahm ihr Telefon heraus. Die unbekannte Nummer stand immer noch in der letzten Nachricht. Sie tippte: Wer sind Sie? und schickte es ab.
Die Antwort kam, bevor sie den zweiten Schritt machte: „Jemand, der Ihre Träume kennt.“
Nancy blieb stehen. Das Meer atmete hinter ihr, dreimal, Pause. Sie steckte das Telefon weg, ohne nochmals auf den Bildschirm zu sehen.
Die dunkle Welle war unterwegs. Und sie hatte ihren Namen.


Kapitel 2 – Die Rückkehr
Das Blaulicht zerriss den Nebel der frühen Stunde. Nancy stand noch immer am Rand des Strandes, die Schuhe feucht, die Finger kalt. Polizisten hatten bereits ein Absperrband gespannt, ein paar Schaulustige drängten sich, redeten hastig durcheinander.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war nur ein Traum. Und jetzt… liegt er hier.
Der Tote wirkte fremd und doch vertraut, als hätte ihr Unterbewusstsein ihn schon vorher gekannt.
„Haben Sie etwas gesehen?“ fragte ein Beamter mit Notizblock.
Nancy schüttelte den Kopf. „Nur… als ich ankam, war er schon da.“ Ihre Stimme war heiser, brüchig.
Ein weiterer Polizist beugte sich über die Leiche. „Keine Ausweise. Nur…“ Er hob etwas hoch – ein Stück Papier, nass, doch darauf klar zu erkennen: drei ineinander verschlungene Linien, fast wie Blätter.
Nancy sog scharf die Luft ein. Es war dasselbe Symbol aus ihrem Traum.
Später, zurück in ihrer Wohnung, starrte sie lange auf die weiße Wand gegenüber. Der Strandgeruch hing noch in ihrem Haar, Salz und Rauch, als hätte das Meer selbst sie markiert. Sie legte sich hin, schloss die Augen, doch statt Schlaf kamen nur Fragmente: Wasser, Schritte, der Blick des Toten.
Am nächsten Morgen stand sie müde vor ihrer Klasse. Kreide quietschte über die Tafel, ihre eigene Handschrift wirkte fremd. Die Stimmen der Schüler drangen wie durch eine Glasscheibe zu ihr.
„Frau Richter?“ Eine Stimme holte sie ins Jetzt zurück.
Es war Luca, einer ihrer Schüler – aufmerksam, vielleicht zu aufmerksam.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er leise.
Nancy zwang ein Lächeln. „Nur… zu wenig Schlaf.“
Doch während sie sich wieder zur Tafel drehte, spürte sie, dass Luca sie weiter beobachtete. Ein Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht deuten konnte. Als wüsste er mehr. Als hätte auch er etwas gesehen.


Kapitel 3 – Zwischenräume
Der Nachmittag legte sich wie Watte über die Schule. Geräusche wurden weich, Schritte verhallten, als wären die Flure länger geworden.
Nancy stand im Kopierraum und wartete auf einen Stapel Arbeitsblätter, der zu langsam wuchs. Die Maschine schnurrte, ratterte, hielt an. Drei Seiten. Pause. Drei. Pause. Drei. Sie drückte zweimal auf „Start“, ohne zu wissen warum, und zog die fertigen Blätter heraus. Auf dem obersten hatte der Toner eine schwache Schlierenlinie gesetzt, einen flachen Bogen. Daneben noch zwei, kaum sichtbar.
Im Gang begegnete sie Luca. Er trug sein Heft unter dem Arm und tat so, als hätte er sie nicht erwartet. „Frau Richter,“ sagte er zu beiläufig, „wegen der Quellenkritik—ich hab’ da eine Frage.“
„Wir haben noch zehn Minuten bis zur nächsten Stunde,“ antwortete sie, „gehen wir ein Stück.“
Sie gingen schweigend die Treppe hinunter. Unten stand ein Eimer mit Putzwasser; jemand hatte zu viel hinein geschüttet, am Rand hing ein klarer Tropfen, der fiel. Klatschen. Dann der nächste. Drei Tropfen, Pause.
„Ihre Frage,“ sagte Nancy.
Luca öffnete das Heft, doch es waren keine Notizen darin—nur eine leere Seite mit einer eingeritzten Linie, als hätte jemand mit dem Fingernagel über das Papier gezogen. „Wie unterscheidet man Zufall von Muster?“
„Man unterscheidet gar nicht,“ sagte Nancy. „Man prüft. Wer, was, wann, warum. Und wenn man es nicht prüfen kann, benennt man es als Hypothese. Nicht als Wahrheit.“
Luca nickte langsam. „Und wenn das Muster zuerst kommt und die Belege erst später?“
„Dann nennt man es noch lange Hypothese.“
„Auch wenn es dreimal klopft?“
Sie blieben stehen. Jemand schloss eine Tür. Das Geräusch lief über die Wand, als wäre sie hohl.
„In die Klasse,“ sagte Nancy, und ihre Stimme klang normal. „Wir sind spät.“
Der Rest des Tages verging in Inseln. Stimmen, Tafel, Kreide. In einer Ecke des Klassenzimmers blinkte das Neonlicht drei Mal, blieb ruhig, blinkte drei Mal, blieb ruhig. Keiner sagte etwas. Nancy korrigierte nach Unterrichtsschluss zwei Arbeiten und schrieb lauter als nötig. Sie merkte, wie sie jede Regung des Gebäudes zählte.
Auf dem Lehrerparkplatz wehte Wind, obwohl die Bäume stillhielten. Nancy öffnete das Auto, stieg ein, legte die Stirn einen Moment ans Lenkrad. Das Telefon lag im Beifahrersitz und vibrierte.
Unbekannte Nummer: „Nicht allein gehen.“
Sie starrte auf den Text, als läse sie eine Sprache, die sich weigerte, verstanden zu werden. Sie schrieb Wer sind Sie, löschte, schrieb Falsche Nummer, löschte wieder und steckte das Telefon weg.
Die Straße nach Hause war zu leer. Auf der Brücke hielt sie an der Ampel. Die Oberfläche des Flusses trug kleine, helle Wellen, die gegen den Pfeiler schlugen: drei, Pause. Drei, Pause. Sie fuhr weiter.
In der Wohnung versuchte sie zu kochen, schaltete den Herd an, stellte ihn wieder aus. Die Stille im Raum trug den Strandgeruch von heute Morgen in der Erinnerung. Sie ging an die Schieferplatte und fuhr mit dem Finger über die drei Bögen von gestern Nacht. Der Kreidestaub sprang an der Haut. Sie wischte ihn ab. Er blieb.
Sie setzte sich an den Tisch, legte die Hände flach auf die Oberfläche und wartete, ohne zu wissen worauf. Als das Telefon noch einmal vibrierte, erschrak sie weniger als erwartet.
Diesmal war es kein Text. Ein Bild, ohne Kommentar. Ein Ausschnitt vom Strand, dicht über dem Sand fotografiert. Im Vordergrund drei parallel gezogene Linien, als hätte jemand mit einer Muschelspitze geritzt. Im Hintergrund der Schatten eines Menschen, der nicht ins Bild gehörte—zu scharf, zu still.
Nancy stand auf, noch bevor sie den Entschluss gefasst hatte. Mantel, Schlüssel, Tasche—Bewegungen, die dem Körper gehörten, nicht dem Kopf.
Vor der Haustür roch es nach Regen, aber der Himmel war klar. Die Luft war schwerer als am Morgen. Auf dem Weg zur U-Bahn sah sie in zwei Hausfluren, wie Lampen der Reihe nach aufleuchteten: drei, Pause. Und dann wieder.
Auf dem Bahnsteig stand Luca. Er sah sie erst im zweiten Blick, als hätte er gehofft, sie nicht zu treffen. „Frau Richter.“ Es klang weniger nach Zufall als nach einem Versuch, es so aussehen zu lassen.
„Wohin?“
„Zum Strand,“ sagte er. „Ich… habe auch eine Nachricht bekommen.“ Er hielt das Telefon hoch. Das gleiche Bild, dieselben Linien, derselbe falsche Schatten.
Die Bahn kam. Sie stiegen ein, setzten sich gegenüber. Der Wagon war fast leer. Eine Werbetafel über der Tür flackerte und blieb auf einer grauen Fläche stehen. Drei helle Streifen liefen darüber wie Spuren von Fingern.
„Warum Sie?“ fragte Luca leise, als die Bahn zwischen zwei Stationen ins Ruckeln kam.
Nancy sah zum Fenster hinaus. In der Scheibe spiegelte sich ihr Gesicht. Hinter ihr, in der Reflexion, stand niemand, und doch war ein Eindruck da, ein Gewicht an der Stelle, an der in ihrem Traum jemand im Wasser gestanden hatte. „Vielleicht weil ich nicht weglaufe.“
Luca lächelte schief. „Ich laufe ständig. Nur weiß ich nie, wohin.“
Die Bahn stoppte. Sie stiegen aus, gingen den kurzen Weg, der am Abend länger war. Der Strand lag offen, der Wind bodennah, als wolle er niemandem ins Gesicht. Das Absperrband hing noch, aber es bewegte sich falsch: drei schnelle Zuckungen, Pause.
„Hier,“ sagte Luca, und bückte sich. Drei flache Linien im feuchten Sand, frisch. Sie endeten abrupt, als hätte jemand die Hand weggezogen, weil er gestoßen wurde.
Nancy trat einen Schritt zurück. Sie spürte in den Waden das Gewicht der See, obwohl das Wasser noch Meter entfernt lag. „Wir gehen,“ sagte sie. „Jetzt.“
„Aber—“
„Wenn uns jemand ruft, drehen wir uns nicht um,“ sagte Nancy. „Das Erste, was wir heute lernen: Wir antworten nicht auf Stimmen, die keinen Mund haben.“
Sie gingen. Der Wind legte ihnen kurz eine Hand in den Rücken, als halte er die Tür auf. Hinter ihnen schob sich eine dunkle Welle näher an die Kante, bremste, zog sich zurück. Der Strand machte das Geräusch, das er immer machte, wenn niemand es hörte.
Im Aufgang zur Promenade hielt Nancy an. „Morgen acht Uhr, Bibliothek,“ sagte sie, ohne Luca anzusehen. „Bringen Sie alle Träume mit, an die Sie sich erinnern. Und alles, was kein Traum ist.“
„Warum helfen Sie mir?“ fragte Luca.
„Weil Sie sonst allein gehen würden,“ sagte Nancy. Sie dachte an die Nachricht in ihrem Telefon, die sie nicht verstand und doch befolgte. „Und weil ich nicht will, dass das Ding lernt, wie Sie klingen.“
Sie gingen getrennte Wege. Auf der Brücke blieb Nancy im Abendlicht stehen. Eine Straßenlaterne sprang an. Dann die nächste. Dann die dritte. Pause. Dann wieder von vorn.
Sie atmete durch, langsam. Hypothese, nicht Wahrheit, sagte der Lehrerinnen-Teil in ihr. Muster, nicht Schicksal, sagte etwas anderes. In der Tasche vibrierte das Telefon ein letztes Mal:
„Morgen. Acht.“
Kein Absender. Kein Gruß. Nur das, was dazwischen lag. Zwischen Traum und Strand. Zwischen Welle und Linie. Zwischen drei und der Pause.


Kapitel 4 – Der Ruf des Wassers
Luca verließ das Klassenzimmer als Letzter. Die anderen Studenten lachten, schoben sich schwatzend in den Flur, doch er blieb noch einen Moment stehen, den Blick auf das leere Pult gerichtet.
Etwas zog. Kein klarer Gedanke, mehr wie ein Sog hinter den Augen.
Draußen vor der Schule vibrierte sein Handy. Eine neue Nachricht. Absender: unbekannt.
Kein Text, nur ein Bild.
Er zoomte heran – drei dunkle Linien, die sich auf nassem Sand kreuzten. Am Rand des Fotos: ein verschwommenes Stück Küste.
Luca spürte, wie sein Herzschlag aus dem Takt geriet. Er hatte diesen Ort schon einmal gesehen. Nicht im echten Leben – in einem Traum, von dem er geglaubt hatte, er sei längst vergessen.
Er stieg in die Bahn, ohne zu überlegen, wohin sie fuhr. Jede Haltestelle kam ihm fremd vor, als würde die Stadt selbst ihre Haut wechseln. Und doch wusste er, dass er richtig war.
Am Fenster spiegelte sich sein Gesicht, blass, fast durchsichtig. Für einen Moment meinte er, hinter sich im Glas eine zweite Silhouette zu sehen – eine dunkle, reglose Gestalt. Er drehte sich um: niemand.
Der Zug rumpelte weiter, bis er in der Nähe der Küste hielt. Luca stieg aus. Der Wind war kalt und trug den Salzgeruch des Meeres. Schritte führten ihn den Weg entlang, den er nie zuvor gegangen war, aber seine Füße schienen ihn von allein zu lenken.
Als er die letzten Dünen überquerte, breitete sich der Strand vor ihm aus.
Und da war sie: Nancy.
Sie stand reglos, den Blick auf das Wasser gerichtet, als hätte sie ihn schon erwartet.


Kapitel 5 – Erste bewusste Begegnung
Nancy stand noch immer im feuchten Sand, als eine vertraute Stimme hinter ihr erklang.
„Frau Richter?“
Sie fuhr herum.
Luca. Jeansjacke, Rucksack über der Schulter, barfuß im Sand. Für einen Moment wirkte es so fehl am Platz, dass Nancy unwillkürlich blinzeln musste.
„Luca? Was… machst du hier?“ Ihre Stimme klang härter, als sie wollte – wie im Klassenzimmer, wenn ein Schüler sich unerlaubt in den Lehrerbereich wagte.
Er lächelte nicht. „Ich könnte Sie dasselbe fragen.“
Nancy atmete durch. Das Bild der Wasserleiche brannte noch immer in ihrem Kopf, so real, dass sie fast den Geruch wahrnahm. „Das ist kein Ort für Schüler.“
„Ich bin nicht hier als Schüler“, sagte er leise.
Etwas in seiner Art ließ sie verstummen. Kein Trotz, keine Respektlosigkeit – eher das Bewusstsein, dass er etwas wusste, was er nicht hätte wissen dürfen.
„Luca…“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Warum bist du hier?“
Er senkte den Blick, scharrte mit dem Fuß eine Spur in den Sand. Drei Linien, nebeneinander. Es war keine Geste, die Zufall sein konnte.
Nancys Herz schlug schneller. „Woher kennst du das?“
„Ich habe geträumt.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Von einem Mann, der im Wasser schwimmt. Und am Ende… lag er hier.“
Die Worte ließen sie erstarren. Ihr Traum. Seine Worte. Ein und dasselbe Bild.
Ein kalter Windstoß zog über den Strand, hob wieder Blätter und Papierfetzen hoch – mitten im Sommer. Beide hoben gleichzeitig den Kopf, als sähe unsichtbar jemand zu.
Luca sah Nancy an, diesmal nicht als Schüler, sondern wie jemand, der auf Augenhöhe stand. „Es verfolgt uns beide, oder?“
Nancy nickte langsam. „Das Muster.“
Zum ersten Mal wussten sie beide: Sie waren nicht mehr Lehrerin und Schüler. Sie waren Gefangene derselben Welle.


Kapitel 6 – Alte Spuren
Nancy Richter schloss das Klassenzimmer hinter sich ab. Der Unterricht war längst vorbei, doch die Stimmen der Schüler klangen ihr noch nach. Heute war nichts normal – nicht nach dem, was am Strand geschehen war.
„Frau Richter?“
Luca wartete am Ende des Gangs. Er hatte die Hände in den Taschen, doch seine Augen suchten ihre.
„Wir sollten nicht ständig…“ – sie brach ab, weil sie selbst hörte, wie leer ihre Worte waren. Beide wussten, dass sie längst zu tief drinsteckten.
Er zog ein zerknittertes Blatt aus seinem Rucksack. „Ich habe das im Archiv der Uni gefunden.“
Nancy nahm es. Schwarzweiß-Kopie, vergilbter Druck. Drei Linien – das gleiche Symbol, das sie am Strand gesehen hatten. Darunter eine Jahreszahl: 1970.
„Woher hast du das?“ fragte sie atemlos.
„Ein alter Zeitungsartikel. Es ging um eine Forschungsgruppe, die verschwunden ist. Angeblich bei einem Experiment unter der Stadt. Niemand hat je die Leichen gefunden.“
Nancy fühlte, wie sich der Boden unter ihr verschob. „Das Muster… es war schon damals da.“
„Vielleicht hat es dort angefangen.“ Luca klang fast, als wolle er hoffen, dass es einen klaren Ursprung gab.
Nancy sah noch einmal auf die Linien. Ihr Traum, Lucas Traum, die Leiche am Strand – alles fügte sich nicht, es riss auf. Und plötzlich war da diese Ahnung: Sie waren nicht die Ersten, die das Muster sahen.
Draußen peitschte der Wind gegen die Fenster, obwohl der Sommerabend still gewesen war, als sie die Schule betreten hatten.
„Wenn es schon 1970 existierte“, flüsterte Nancy, „dann bedeutet das… wir laufen einem Schatten nach, der älter ist, als wir je begreifen können.“
Luca nickte langsam. „Und er ist noch nicht fertig.“


Kapitel 7 – Die Forscherin
Das Institut lag am Rand der Stadt, ein grauer Bau aus Glas und Beton, in dem das Licht der Abendsonne müde zerfloss. Hinter dem Schreibtisch beugte sich Kate Berger über eine Akte, die älter war als sie selbst.
Sie war gewohnt, in Archiven zu wühlen – vergessene Experimente, unklare Projekte, Protokolle ohne Absender. Aber dieses Dokument war anders.
Datum: 1970.
Randnotiz: „Testreihe 3.3.6 // Verbindung stabil“.
Kate strich mit den Fingern über die verblassten Buchstaben, als könnte sie mehr fühlen, als das Papier zeigte. „Verbindung stabil… womit?“ murmelte sie.
Ein Klopfen an der Tür. Eine Kollegin steckte den Kopf herein. „Arbeitest du schon wieder an den alten Fällen?“
Kate nickte knapp. „Nur noch ein bisschen. Es gibt eine Linie, die ich noch nicht verstehe.“
Als die Tür ins Schloss fiel, griff sie nach ihrem Handy. Auf dem Display blinkte eine ungelesene Nachricht – anonym, keine Nummer.
„Wenn du wissen willst, was damals geschah – folge dem Muster. Beginne am Strand.“
Kate starrte auf die Worte. Der Strand. Dieselbe Stelle, von der sie erst gestern in einer obskuren Polizeimeldung gelesen hatte: eine Wasserleiche, ohne Identität, ohne Ursache.
Sie nahm ihre Jacke, verstaute die Akte im Rucksack und trat hinaus in die Nacht.
Der Wind hatte gedreht, er trug Salz und etwas Metallisches in der Luft.
Kate wusste nicht, dass Nancy und Luca schon längst hineingezogen waren.
Doch das Muster arbeitete leise – und nun hatte es auch sie gefunden.


Kapitel 8 – Spuren im Archiv
Der Geruch von Staub und altem Papier hing schwer in der Luft. Kate stand inmitten der verstaubten Reihen des Stadtarchivs, wo die Regale so eng standen, dass sich die Schatten ineinander verschluckten. Ein schwaches Neonlicht flackerte über ihr, jedes Aufblitzen ließ die Aktenordner kurz wie stumme Zeugen wirken.
Sie schlug die beigelegte Mappe mit der Aufschrift 1970 – Ereignis am Hafen auf.
Die Seiten waren vergilbt, die Tinte teilweise verblasst. Doch was sie las, ließ sie innehalten:
„…eine nicht identifizierte männliche Leiche wurde am 12. Mai 1970 an den Strand gespült. Auffälligkeiten: Wasser in der Lunge, aber keinerlei Anzeichen von Ertrinken. Uhrzeit des Fundes: 03:36.“
Kate runzelte die Stirn. 03:36 – dieselbe Uhrzeit, die sie in der anonymen Nachricht gesehen hatte. Ein Muster.
Sie blätterte weiter. Ein unscharfes Schwarz-Weiß-Foto zeigte den Körper, halb von Seegras bedeckt. Daneben ein Vermerk in Handschrift:
„Drei Blätter im Sand. Zufall?“
Kate schloss kurz die Augen. Drei Blätter. Genau dieses Symbol hatte sie vor Tagen am Strand gespürt, als der Wind so unnatürlich geweht hatte.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Schritte. Langsam, schwer, irgendwo zwischen den Regalen.
„Hallo?“ Ihre Stimme hallte zu laut in der Stille. Keine Antwort.
Sie hielt den Atem an, hörte nur ihr eigenes Herz. Dann – ein Rascheln, direkt hinter ihr.
Kate fuhr herum. Nichts. Nur ein Ordner, der halb aus dem Regal gerutscht war.
Sie hob ihn auf. Darin lose Seiten, eine Notiz ganz oben:
„Das Muster begann nicht hier. Es war nur der erste sichtbare Riss.“
Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Sie war nicht zufällig auf diese Spur gestoßen. Jemand – oder etwas – wollte, dass sie diese Verbindung sah.


Kapitel 9 – Begegnung am Strand
Der Himmel lag schwer über der Küste, wolkenlos, aber unnatürlich dunkel. Das Meer glitzerte nicht, es atmete – leise, gleichmäßig, als würde es auf jemanden warten.
Kate ging den schmalen Pfad vom Archiv direkt zum Wasser. Der Ordner mit den vergilbten Seiten hing ihr noch im Kopf nach. 1970. Eine Leiche. Drei Blätter im Sand. Und jetzt – sie wusste nicht warum – hatte sie das Gefühl, dass sie genau hier sein musste.
Am Strand war es still. Zu still. Kein Wind, kein Rauschen, nur das Flüstern ihrer Schritte im nassen Sand.
Dann hörte sie Stimmen.
Zwei Gestalten standen nicht weit entfernt, ihre Umrisse schwach erkennbar im blassen Licht. Eine Frau, mittleren Alters, mit ernster Haltung. Ein junger Mann, unsicher, aber wachsam.
„Frau Richter…?“ Kates Stimme zögerte.
Nancy drehte sich um, überrascht. „Wer sind Sie?“
„Kate. Kate Berger. Ich… forsche über die Vorfälle von 1970.“
Luca trat einen Schritt nach vorn. „Sie haben auch davon gehört?“
„Mehr als das“, sagte Kate. Sie hielt den zerknitterten Zettel hoch, auf dem in alter Schrift stand: ‚Das Muster begann nicht hier.‘
Nancy starrte auf die Zeilen, als hätte sie sie schon einmal gesehen. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
„Dann ist es kein Zufall, dass wir uns hier treffen“, murmelte sie.
Das Meer zog sich plötzlich zurück – ein ungewöhnlich langer Atemzug – und legte für einen Moment den feuchten Grund frei. Im Sand schimmerten drei Blätter, als hätte jemand sie sorgfältig hingelegt.
Luca wich zurück. „Das… das ist unmöglich.“
Nancy nickte langsam. „Nein, Luca. Das ist das Muster. Es zeigt uns den Weg.“
Kate fühlte eine Kälte in sich aufsteigen. Sie hatte geglaubt, sie würde Antworten finden. Stattdessen stand sie jetzt mitten in einem Spiel, das schon lange vor ihr begonnen hatte.


Kapitel 10 – Die Rückkehr ins Archiv
Das Knarren der schweren Türen hallte durch den Korridor, als Nancy die alte Schlüsselkarte durch den Scanner zog. Ein grünes Licht blinkte auf, das Schloss entriegelte sich langsam, fast widerwillig.
Das Stadtarchiv roch nach Staub, Eisen und einer Kälte, die nicht vom Herbst kam. Luca fröstelte, als er hinter Nancy eintrat. Kate schloss die Tür sorgfältig hinter sich, als würde sie ahnen, dass es draußen jemanden gab, der zuhören konnte.
„Hier drüben“, flüsterte Kate. Sie führte die beiden zu einem Regal, dessen Nummer sie noch aus dem Ordner im Kopf hatte. 1970 – Sonderakten.
Die Schublade ließ sich schwer öffnen. Der Metallgriff war kalt, fast feucht.
Nancy zog die erste Mappe heraus.
Darauf stand in verblasster Schreibmaschine: „Fallakte: Strandleiche – Datum: 12. Oktober 1970“.
Sie legte die Seiten auf den Tisch. Schwarz-weiß Fotografien, grobkörnig, aber deutlich genug: Ein Körper im Sand, verdreht, das Gesicht halb im Wasser. Neben der Leiche lagen drei Blätter – exakt so wie Nancy sie in ihrem Traum gesehen hatte.
Luca beugte sich vor, seine Hände zitterten leicht. „Das… das ist doch kein Zufall.“
„Es ist nie Zufall“, murmelte Nancy.
Kate blätterte weiter. In den Akten waren Protokolle von Zeugen, die von „Flüstern im Wind“ und „Gestalten im Schatten“ berichteten. Und ein Vermerk, der mehrfach unterstrichen war:
„Verbindung zum Projekt M – weitere Nachforschungen untersagt.“
„Projekt M?“ fragte Luca.
Kate nickte langsam. „M… wie Muster.“
Nancy schloss kurz die Augen. Alles in ihr sagte, dass sie diese Mappe nie hätte öffnen dürfen. Und doch – jetzt war der Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab.
Dann flackerte das Licht über ihnen. Ein dumpfes Summen legte sich in den Raum, vibrierend, wie ein Herzschlag.
„Es weiß, dass wir hier sind“, sagte Nancy leise.


Kapitel 11 – Stimmen aus Papier
Das Summen kroch durch die Regale wie ein Stromstoß.
Nancy legte die Hand auf die Akte, doch das Papier fühlte sich seltsam warm an, als hätte es gerade erst jemand geschrieben.
„Habt ihr das gesehen?“ Luca zeigte auf eine andere Schublade. Sie war von selbst aufgegangen. In der Dunkelheit des Gangs klapperte Metall, als weitere Fächer nacheinander aufsprangen.
Kate trat vorsichtig näher. „Das Archiv… es reagiert.“
Aus einer geöffneten Schublade rutschte ein einzelnes Blatt zu Boden. Darauf nur ein Satz, handschriftlich, in dicker schwarzer Tinte:
„1970 war nicht der Anfang.“
Nancy hob es auf, ihre Finger zitterten. „Wenn 1970 nicht der Anfang war… wo führt das dann hin?“
Noch bevor jemand antworten konnte, fiel ein ganzer Stapel Akten auf den Boden. Fotos rutschten auseinander – Gesichter von Menschen, die keiner von ihnen kannte. Doch unter jedem Bild stand dasselbe Kürzel: M-17.
Luca wich zurück. „Das ist krank… irgendwer hat das alles geplant.“
Kate kniete sich hin, ihre Augen fixierten ein Detail. „Seht ihr das? Manche dieser Gesichter wiederholen sich… nur mit verschiedenen Jahreszahlen. 1950. 1960. 1970.“
Nancy spürte, wie sich der Raum um sie schloss. Bücher und Akten schienen enger zusammenzurücken, als atme das Archiv selbst.
Plötzlich raschelte es. Kein Luftzug, nur ein eigenständiges Geräusch – als ob Hunderte Seiten gleichzeitig umblättern würden.
Und aus diesem Rascheln formte sich ein Flüstern. Kaum hörbar, aber eindeutig:
„Ihr gehört dazu.“
Das Licht flackerte wieder. Auf dem Tisch lag nun eine neue Mappe, die vor einer Minute nicht da gewesen war.
Der Titel: „Nancy Richter – 2025“.


Kapitel 12 – Die eigene Akte
Nancy starrte auf die Mappe. Ihre Finger berührten das vergilbte Kartoncover, und sofort durchzuckte sie ein kalter Schauer.
„Das ist nicht möglich“, flüsterte sie.
„Mach sie nicht auf“, warnte Luca. Seine Stimme brach leicht. „Vielleicht ist es eine Falle.“
Kate trat näher. Ihre Augen ruhten ernst auf Nancy. „Das Muster zeigt nichts ohne Grund. Wenn dein Name draufsteht, will es, dass du es siehst.“
Langsam, widerstrebend, öffnete Nancy die Mappe.
Die erste Seite: ein offizielles Dokument. Schwarz-weißes Foto von ihr, aufgenommen vor wenigen Monaten. Darunter: „Nancy Richter – Lehrkraft. Eintrittspunkt bestätigt.“
Die nächste Seite war schlimmer.
Handschriftliche Notizen, präzise wie von jemandem, der neben ihr gestanden hatte:
12. Mai 2025: Gespräch mit Luca im Klassenzimmer.
13. Mai 2025: Traum von der Wasserleiche.
14. Mai 2025: Strand. Beginn des Zyklus.
Nancy stockte der Atem. Das war nicht nur ihre Vergangenheit – das waren ihre letzten Tage, minutiös dokumentiert.
Dann blätterte der Wind die Seite selbstständig weiter.
Und darunter stand, mit roter Tinte:
15. Mai 2025: Erste Begegnung mit Kate.
16. Mai 2025: Archiv. Konfrontation mit M-17.
17. Mai 2025: Verschwinden von Nancy Richter.
„Verschwinden?“ Luca griff nach dem Blatt, als könne er das Wort zerreißen. „Nein. Das ist… Unsinn.“
„Oder eine Warnung.“ Kate sah Nancy fest an. „Das Muster schreibt keine Zufälle.“
Doch Nancy fühlte es – tief in sich, wie ein Echo: Das war kein Zufall. Es war ein Ablauf, längst eingraviert.
Und dann fiel ein weiteres Blatt aus der Mappe, landete vor ihren Füßen.
Darauf nur ein einziges Wort, in schwarzer Tinte:
„Bestätigt.“


Kapitel 13 – Die Spiegelakten
Das Archiv roch nach Staub und altem Papier, aber zwischen den Regalen hing etwas, das nicht hierher passte: eine Spannung, als wäre die Luft selbst elektrisch geladen.
Luca ging ein paar Schritte tiefer hinein. Sein Blick blieb an einer Schublade hängen, die leicht geöffnet war, als hätte sie jemand absichtlich für ihn bereitgelassen. Er zog sie auf – darin stapelten sich braune Mappen, gleichförmig, doch eine stach heraus. Sein Name stand darauf, klar und lesbar:
Luca Moreno.
Sein Herz schlug schneller. „Nancy… ich… ich hab auch eine.“
Er öffnete sie mit zitternden Fingern. Auf der ersten Seite: ein Studentenfoto von ihm, kaum ein Jahr alt. Darunter maschinenschriftlich:
Eintrittspunkt 2025 – Lehrer-Schüler-Verbindung.
Primäre Variable: Bindung zu Nancy Richter.
Er schluckte. „Das Ding… beobachtet mich seit Beginn.“
„Es beobachtet uns alle“, sagte Kate, und ihre Stimme klang hohl. Denn auch sie hielt nun eine Mappe in der Hand, die aus einem anderen Regal gefallen war. Auf dem Deckblatt: Kate Berger.
Sie öffnete sie ohne zu zögern. Drinnen: wissenschaftliche Notizen, Diagramme, alte Fotos von Hallen, die sie noch nie gesehen hatte – und doch waren sie mit ihrem Namen markiert.
Forscherin – Zugang zu historischen Daten.
Verbindungslinie: 1970.
„Das kann nicht sein“, flüsterte Kate. „Das hier… das habe ich nie untersucht. Und doch… steht es hier, als hätte ich es längst getan.“
Nancy trat näher, die eigene Mappe fest an sich gedrückt. „Es sind nicht nur Aufzeichnungen. Es sind… Skripte.“
Luca sah von seiner Akte zu den anderen. „Skripte?“
„Vorbestimmte Rollen“, murmelte Nancy. „Wir denken, wir treffen Entscheidungen – aber das Muster hat sie längst notiert.“
Ein dumpfes Geräusch hallte durch das Archiv. Ein Ordner fiel von einem oberen Regal und schlug auf dem Boden auf. Alle drei zuckten zusammen.
Kate hob ihn auf. Der Deckel war unbeschriftet – doch als sie ihn öffnete, stand auf der ersten Seite ein Satz, in roter Schrift:
„Drei Akten. Drei Wege. Ein Ende.“


Kapitel 14 – Die Sammelakte
Das Archiv schien unendlich, als hätte es keinen Anfang und kein Ende. Regale reihten sich an Regale, Schatten verschluckten die Gänge. Das Knistern alter Neonröhren war das Einzige, was den Raum am Leben hielt.
Nancy blieb abrupt stehen. Auf einem der mittleren Regalbretter lag eine Mappe, größer als die anderen, in Leder gebunden, mit einem goldfarbenen Schriftzug:
„Sammelakte 1970 – Projekt Ursprung“
Sie zog sie vorsichtig heraus. Der Einband war schwer, als trüge er mehr als nur Papier. Die Seiten im Inneren waren vergilbt, an den Rändern ausgefranst. Alte Fotos, Zeitungsartikel, Skizzen.
„Das… ist der Anfang“, murmelte Kate. Ihre Finger strichen über ein Schwarzweißfoto: Drei Menschen, unscharf aufgenommen vor einem Gebäude, das aussah wie eine der Hallen, nur Jahrzehnte älter.
Luca beugte sich näher. „Da steht was.“ Er las die handschriftliche Notiz darunter:
„Erster Zyklus. Drei Subjekte. Ablauf nicht stabil.“
Nancy schluckte. „Drei Subjekte… damals. Drei Subjekte… jetzt.“
Die Seiten wechselten zwischen Berichten, unleserlichen Zahlenkolonnen und merkwürdigen Symbolen – Spiralen, Dreiecke, immer wieder die Zahl 3.
Kate blätterte weiter und hielt inne. Eine Seite, sauber eingeheftet, aber mit neuerer Schrift, stach heraus. Anders als die vergilbten Blätter wirkte sie frisch, fast so, als sei sie gerade eben eingefügt worden. Darauf stand nur ein einziger Satz:
„Der Zyklus endet in 16.“
Die drei starrten die Zeilen an. Niemand sprach. Niemand wagte, das Offensichtliche laut zu machen.
Dann knackte plötzlich eine Röhre über ihnen, und der ganze Gang wurde für einen Moment dunkel. Als das Licht zurückkehrte, war die Mappe wieder zugeklappt – so fest, als hätte sie niemand je geöffnet.
Nancy presste die Mappe an ihre Brust. „Wir sind Teil eines Spiels, das nicht wir begonnen haben. Aber vielleicht wir beenden.“
Doch tief in ihr wusste sie: Der Hinweis war nicht Warnung, sondern Urteil.


Kapitel 15 – Spiegelungen
Der Wind, der durch die zerbrochenen Fenster des Archivs drang, roch nach Staub und Salz, als hätte er den Weg vom Meer hierhergefunden. Nancy, Luca und Kate saßen schweigend an dem langen Holztisch, die Sammelakte zwischen ihnen.
Keiner wagte sie erneut zu öffnen. Der Satz darin stand noch immer unausgesprochen zwischen ihnen: „Der Zyklus endet in 16.“
„Es wiederholt sich“, sagte Nancy schließlich, ihre Stimme rau. „Alles, was 1970 begann, rollt jetzt wieder an. Und wir sind… die Spiegel.“
Luca rieb sich über die Stirn. „Subjekte. Drei damals. Drei jetzt. Wir treten genau in dieselben Fußstapfen.“
Kate sah ihn an, als wollte sie widersprechen, aber sie brachte kein Wort heraus. Stattdessen zog sie einen zerknitterten Zeitungsausschnitt aus der Akte hervor, den sie unbemerkt an sich genommen hatte. Auf dem Foto war eine junge Frau zu sehen, kaum älter als Nancy, die vor einer der Hallen stand. Der Name darunter: Dr. K. Reinhardt.
Kate starrte wie gebannt auf das Bild. „Das… das ist meine Großmutter.“
Die Worte hallten in den Mauern wider, als gehörten sie gar nicht hierher. Nancy und Luca sahen sie an, doch Kate war blass geworden, fast so, als hätte ihr Körper die Wärme verlassen.
„Das Muster ist nicht neu für mich“, flüsterte sie. „Es ist… erblich.“
Stille legte sich über den Raum. Nur draußen, irgendwo in der Ferne, schlug ein metallischer Klang, rhythmisch, wie ein Echo aus einer anderen Zeit.
Nancy ballte die Hände zu Fäusten. „Dann beginnt es wieder. 1970. Jetzt. Und wenn es wirklich in 16 endet… haben wir noch zwei Schritte, bevor der Zyklus zuschlägt.“
Kate ließ den Zeitungsausschnitt sinken. „Oder zwei Schritte, bevor wir darin verschwinden.“
Die Neonröhren flackerten erneut, diesmal länger. Und für einen kurzen, geisterhaften Moment sahen alle drei, wie sich die Schatten an der Wand bewegten – nicht im Takt des Lichts, sondern im Rhythmus einer unsichtbaren Uhr, die längst zu laufen begonnen hatte.


Kapitel 16 – Der Kreis schließt sich
Das Archiv war still. Zu still.
Die Neonröhren hatten aufgehört zu flackern, als hätte das Muster selbst entschieden, dass Licht hier überflüssig war. Nur die alte Uhr über der Tür tickte – 3:36.
Nancy hielt die Sammelakte in den Händen, die Seiten flatterten leicht, obwohl kein Wind ging. Die Worte darauf schienen sich zu verschieben, als lebten sie.
„Es geht um mich“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Luca trat einen Schritt näher. „Was meinst du?“
Nancy schluckte. Sie zeigte auf den Eintrag vom Jahr 1970:
„Richter. Schlüssel. Lehrer.“
Darunter, in roter Tinte: „Subjekt 16.“
Kate starrte sie entgeistert an. „Das heißt… du bist nicht nur hineingeraten. Du bist seit Anfang an vorgesehen.“
Die Seiten der Akte begannen, sich von selbst umzublättern. Fotos, Notizen, Zahlenreihen – alles drehte sich um Nancy. Immer wieder tauchte das Symbol der drei Blätter auf, jedes Mal mit einer neuen Jahreszahl darunter: 1970. 1998. 2025.
„Der Zyklus endet in 16“, hauchte Nancy. „Und ich bin die Sechzehnte.“
Die Schatten an den Wänden lösten sich, krochen wie kalter Rauch näher. Eine Stimme, alt und fern, sprach aus dem Nichts:
„Nur einer trägt den Preis. Nur einer bricht den Kreis.“
Nancy schloss die Augen, atmete tief. „Ich verstehe jetzt. Das Muster will Opfer, um weiterzulaufen. Aber wenn ich mich stelle… wenn ich der Knotenpunkt bin… dann kann ich es umlenken.“
„Nein!“ Luca griff nach ihrer Hand. „Es gibt einen anderen Weg!“
Sie lächelte schwach, traurig. „Manchmal gibt es keinen. Manchmal ist der einzige Ausweg, den Kreis nicht zu durchbrechen – sondern ihn selbst zu werden.“
Ein gleißendes Licht brach aus der Akte hervor. Nancy trat hinein, ohne zu zögern. Für einen Augenblick war sie nicht mehr die Lehrerin, nicht mehr die Frau mit dem müden Lächeln – sie war das Zentrum. Linien, Muster, Spiralen bildeten sich um sie, flossen in sie hinein.
Dann brach alles zusammen.
Das Archiv stürzte in Dunkelheit. Nur die Uhr tickte noch. 3:37.
Als das Licht zurückkehrte, standen Luca und Kate allein. Die Akte war verschwunden. Und mit ihr Nancy.
Auf der Wand, in rußschwarzen Zügen, stand ein einziger Satz:
„Der Zyklus geht weiter.“


Epilog – Nach dem Kreis
Der Regen hatte aufgehört, doch die Stadt wirkte, als hätte sie einen Herzschlag verloren. Luca und Kate standen schweigend vor dem alten Archivgebäude. Das Licht der Laternen war fahl, brüchig, als würde es gleich verlöschen.
„Sie kommt nicht zurück, oder?“ flüsterte Kate.
Luca antwortete nicht sofort. Er starrte auf seine Handflächen, als könnten dort noch die Schatten von Nancys Fingern liegen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. „Nein.“
Sie gingen die Straße entlang, jeder Schritt schwer. Niemand sprach über die Leere, die Nancy hinterlassen hatte – sie war mehr als eine Lehrerin gewesen, mehr als die Frau, die ihre Fäden zusammenhielt. Sie war das Opfer, das den Zyklus erneut in Gang gesetzt hatte.
Am nächsten Tag saß Luca allein in der Bibliothek der Universität. Zwischen alten Akten lag ein einzelnes Blatt, das er nicht dorthin gelegt hatte. Keine Handschrift, nur maschinisch gedruckt:
„Subjekt 17. Luca.“
Sein Herz stockte. Er drehte das Blatt um, suchte nach Erklärungen. Nichts. Nur dieses Wort.
Als er aufblickte, sah er Kate im Türrahmen. In ihrer Hand hielt sie ein eigenes Dokument. „Es gibt noch mehr“, sagte sie. „Sie haben uns längst vorgesehen.“
Der Wind blätterte durch die Regale, ließ ein Dutzend Seiten zu Boden segeln. Überall dieselben drei Blätter, ineinander verschlungen.
Sie sahen sich an, und in diesem Blick lag mehr Gewissheit als Hoffnung:
Das Muster war nicht gebrochen.
Es hatte nur die Spielfiguren gewechselt.

ENDE!