Das Muster 7.1.4



📘 Das Muster – Band 4: 7.1.4

Eine verlassene Hafenhalle.
Ein Glas-Kubus, der atmet.
Und eine Zahl, die niemand verstehen kann.

Joy, John und die rätselhafte Marie stehen vor einer Entscheidung, die alles verändern wird.
Doch was immer in 7.1.4 eingeschlossen ist, scheint sie schon zu kennen – und es wartet.

Als der Kubus sich öffnet, finden sie kein Wesen, sondern ein neues Fragment des Musters: eine Metallplatte mit der Gravur 9.4.1.
Ist es eine Spur… oder eine Warnung?

Zwischen Wahrheit und Täuschung, Loyalität und Verrat, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – und eine Tür zu etwas, das niemand kontrollieren kann.


Kapitel 1 – Rückkehr in die Halle
Der Wind vom Hafen war kalt und salzig. Er trug den Geruch von Diesel, altem Holz und Rost mit sich, und irgendwo quietschte ein loses Metallblech im Rhythmus der Böen. Joy zog den Kragen ihrer Jacke hoch, während ihre Schritte dumpf auf den nassen Pflastersteinen hallten.
Neben ihr ging John, schweigend, den Blick nach vorn gerichtet. Er hielt ein Bündel alter Schlüssel in der Hand, deren Metall bei jedem Schritt leise aneinander klären

„Da vorne“, sagte er schließlich.

Die Halle 7.1.4 lag am äußersten Rand des stillgelegten Industriehafens, zwischen gekippten Kränen und eingestürzten Lagerhäusern. Das Schild über dem massiven Schiebetor war verwittert, aber die Zahlen waren noch klar zu lesen: 7.1.4.

Joy blieb stehen. Irgendetwas an dieser Zahl löste ein dumpfes Ziehen in ihr aus, als würde sie an einer verdrängten Erinnerung kratzen.
„Fühlt sich… falsch an“, murmelte sie.

John sah sie kurz an. „Falsch genug, um hier nicht reinzugehen?“
„Nein“, sagte sie nach einer Pause. „Falsch genug, um es schnell hinter uns zu bringen.“

Mit einem Ruck schob John das Tor auf. Das Quietschen der Scharniere klang wie ein gequälter Schrei. Drinnen war es still, nur das Tropfen von Wasser irgendwo in der Ferne durchbrach die Leere.

Und dort, in der Mitte der Halle, stand er: der Kubus.

Etwa zwei Meter hoch, aus glattem Glas, gehalten von einem dunklen Metallrahmen. Die Oberflächen waren makellos, als hätte jemand sie gestern poliert. Doch das Licht der flackernden Neonröhren ließ das Innere verschwimmen.

„Hast du das gehört?“, fragte Joy.
„Ja.“ Johns Stimme war angespannt. „Es… atmet.“


Kapitel 2 – Zwei Schlüssel
„Ich hätte nicht gedacht, euch hier zu treffen.“
Die Stimme ließ Joy zusammenzucken. Sie wirbelte herum – und da stand Marie.

Sie trug einen langen, dunklen Mantel, die Hände tief in den Taschen, und ihre Augen ruhten nicht auf ihnen, sondern auf dem Kubus.
„Marie“, knurrte John. „Was willst du hier?“

„Dasselbe wie ihr“, sagte sie gelassen. „Herausfinden, was da drin ist.“

„Du gehörst nicht mehr dazu.“
„Vielleicht nicht.“ Langsam zog sie etwas aus der Manteltasche – einen schweren, alten Schlüssel, dessen Griff wie geschwärztes Silber glänzte. „Aber ohne mich kommt ihr nicht weiter.“

Joy sah von John zu Marie. „Was meinst du?“

Marie trat näher. „Es gibt zwei Schlösser. Eins hier…“ Sie deutete auf die Vorderseite des Kubus. „…und eins auf der Rückseite. Beide müssen gleichzeitig geöffnet werden.“

John zog ebenfalls einen Schlüssel aus seiner Jacke. „Woher hast du den?“
„Lange Geschichte“, sagte Marie nur.

Joy spürte, dass hier mehr war als nur eine zufällige Begegnung. Zwischen John und Marie knisterte etwas – alte Spannungen, unausgesprochene Dinge. Und der Kubus schien ihre Nähe zu registrieren, denn das Atmen wurde lauter.


Kapitel 3 – Das Atmen
Sie umrundeten den Kubus langsam. Das Glas war undurchsichtig, aber Joy meinte, Bewegungen darin zu sehen – oder bildete sie es sich nur ein?
Dann, ganz nah, hörte sie es: ein leises, rhythmisches Ein- und Ausströmen von Luft, wie der Schlaf eines riesigen Tieres.
„Da!“, flüsterte sie.
John und Marie hielten inne.

„Ja“, sagte Marie ruhig. „Es lebt.“

Joy wich zurück. „Wie kann… irgendwas hier drin leben? Seit wie lange?“
Keine Antwort.

Plötzlich schoss ein Bild in Joys Kopf: eine Halle, vielleicht diese hier, vor Jahren. Sie selbst, jünger, mit ausgestreckter Hand am Glas. Eine Berührung – und auf der anderen Seite etwas Warmes, Lebendiges.

Sie stolperte zurück. „Ich habe… ich habe das schon mal berührt.“
Johns Blick wurde hart. „Dann weiß es, wer du bist.“

Das Atmen verstummte. Eine unnatürliche Stille legte sich über die Halle, schwer und drückend, als hielte die Luft selbst den Atem an.
„Es weiß, dass wir hier sind“, flüsterte Marie.


Kapitel 4 – Die Wahrheit in Fragmenten
Die drei standen im Halbkreis vor dem Kubus. Von draußen drang nur das leise Rauschen des Windes durch die Ritzen des Hallentors.
„Wir sollten es zerstören, bevor es… bevor es aufwacht“, sagte John schließlich.
„Und du bist sicher, dass das die richtige Wahl ist?“ Maries Stimme klang ruhig, aber in ihren Augen lag ein scharfes Funkeln.

„Es ist gefährlich.“ John trat einen Schritt näher an den Kubus. „Ich habe gesehen, was passiert, wenn wir solche Dinge freilassen.“
„Und ich habe gesehen, was passiert, wenn wir sie vergraben“, erwiderte Marie.

Joy blickte zwischen den beiden hin und her. „Ihr wisst beide mehr, als ihr sagt.“

Marie verschränkte die Arme. „Es ist nicht einzigartig. 7.1.4 ist… älter. Älter als das Muster. Älter als wir drei. Und es ist nicht das Einzige seiner Art.“

Joy spürte ein kaltes Ziehen im Nacken. „Woher weißt du das?“
„Weil ich schon einmal in einer anderen Halle stand. Nicht hier. Aber vor etwas… fast Identischem.“

Johns Blick verhärtete sich. „Und was hast du damit gemacht?“
Marie antwortete nicht.


Kapitel 5 – Die Entscheidungslinie
Später, im schwachen Licht der flackernden Neonröhren, standen Joy und Marie allein auf der Rückseite des Kubus. John war hinausgegangen, angeblich um den Generator zu prüfen.
„Du bist jetzt die zweite Schlüsselträgerin“, sagte Marie. „Ohne dich öffnet sich nichts.“
Joy strich mit den Fingern über das kalte Metall des Schlosses. „Und wenn ich nicht will?“

„Dann bleibt es zu. Aber…“ Marie beugte sich näher zu ihr. „Vielleicht enthält es etwas, das dir Antworten gibt. Antworten, die nur für dich bestimmt sind.“

Joy spürte einen kurzen Anflug von Zorn. „Du spielst mit mir.“
„Nein“, erwiderte Marie, „ich gebe dir eine Wahl.“

Ein dumpfer Schlag ertönte aus dem Inneren des Kubus. Joy wich zurück. „Was war das?“
„Es reagiert auf dich“, sagte Marie. „Jeder Schlag heißt: es erkennt dich.“

John kehrte zurück, das Gesicht angespannt. „Wir müssen uns entscheiden. Jetzt.“


Kapitel 6 – Das Erwachen
Das Atmen war stärker geworden, begleitet von einem tiefen Brummen, das den Boden unter ihren Füßen vibrieren ließ. Risse zogen sich wie feine Spinnweben durch das Glas.
„Es hält nicht mehr lange“, sagte John und zog seinen Schlüssel fester.
„Dann öffnen wir es jetzt“, entgegnete Marie.

„Bist du verrückt?“ John packte sie am Arm, doch sie riss sich los.
„Vielleicht. Aber es wird so oder so aufbrechen – und dann lieber unter unserer Kontrolle.“

Joy hörte plötzlich ihre eigene Stimme. Nicht jetzt, sondern wie ein Echo aus der Vergangenheit: „Lass mich rein…“
Sie hielt inne, suchte den Ursprung, doch der Hallenboden bebte und das Licht flackerte heftig.

„Joy!“, rief John.
„Es… hat mit mir gesprochen“, sagte sie tonlos.

Marie trat dicht an sie heran. „Dann weißt du, dass du der Schlüssel bist. Wortwörtlich.“


Kapitel 7 – Verzerrung
Das Flackern der Neonröhren wurde schneller, bis es wie ein stummes Stottern wirkte. Der Raum veränderte sich – zumindest schien es so. Wände, die eben noch leer waren, flimmerten, als würden sich Schattenmuster darauf bewegen.
„Seht ihr das auch?“, fragte Joy.
„Ja“, antwortete John knapp, die Hand am Schlüssel, bereit, jeden Moment zu handeln.

„Es spricht zu dir, nicht zu uns“, sagte Marie und trat dicht an Joy heran. „Was sagt es?“

Joy schloss kurz die Augen. Eine Stimme, leise wie ein Flüstern im Wind, drang in ihr Bewusstsein: „Schließ auf. Du weißt, dass du musst.“

„Es will, dass ich öffne“, sagte sie schließlich.
„Und ich sage: Nein“, entgegnete John scharf. „Was immer da drin ist, es kann uns zerstören.“
„Oder retten“, warf Marie ein.

Der Kubus pulsierte leicht, als würde er ihren Streit hören – und genießen.


Kapitel 8 – Die Risse werden größer
Die feinen Spinnwebenrisse im Glas wurden tiefer, einzelne kleine Splitter fielen klirrend zu Boden. Das Atmen war nun ein heiseres, schweres Keuchen.
„Wir haben keine Zeit mehr“, sagte John.
„Dann triff deine Wahl, Joy“, forderte Marie.

Joy stand zwischen ihnen, das Herz hämmerte in ihrer Brust. „Was passiert, wenn wir es nicht öffnen?“
Marie sah sie ernst an. „Es bricht von allein auf. Und dann… sind wir nicht vorbereitet.“

Ein weiterer Ruck ging durch den Boden. In der Ferne klirrte Metall. Joy hatte das Gefühl, dass die Halle selbst sich leicht neigte.
„Ich glaube, es… zieht Energie“, sagte sie.
Johns Gesicht verfinsterte sich. „Das macht es noch gefährlicher.“


Kapitel 9 – Schlüssel
„Jetzt oder nie“, sagte Marie und stellte sich an ihr Schloss.
John zögerte. „Wenn wir das tun, gibt es kein Zurück.“
„Es gibt nie ein Zurück“, entgegnete Marie.
Joy griff in ihre Tasche, spürte den kalten Schlüssel. Ihre Finger zitterten. „Wir tun es… zusammen.“

Auf drei drehten sie die Schlüssel gleichzeitig. Ein mechanisches Klicken hallte in der Halle wider, dann ein Zischen, als würde Luft aus einem versiegelten Raum entweichen.

Der Kubus begann zu leuchten – kein warmes Licht, sondern ein kaltes, weißes Strahlen, das jede Kontur der Halle hart und unwirklich erscheinen ließ.

„Zurück!“, rief John, doch Joy konnte sich nicht bewegen. Etwas zog sie nach vorn.

Sie streckte die Hand aus. Kaltes Glas. Dann nichts. Das Glas war weg – und vor ihr nur Leere. In dieser Leere schwebte eine kleine, metallene Platte, nicht größer als ihre Handfläche.

Sie griff danach – und in dem Moment erlosch das Licht.

Der Kubus war leer.


Kapitel 10 – Eine neue Zahl
Joy stand in der Dunkelheit, die Platte fest in der Hand. Darauf eingraviert: 9.4.1.
„Was… ist das?“, fragte John.
„Der nächste Schritt“, sagte Marie leise.
„Ich dachte, das Muster ist zu Ende“, flüsterte Joy.
„Vielleicht war es nie ein Ende. Nur eine Tür“, antwortete Marie.

Von draußen drang das entfernte Heulen einer Sirene herein. Der Boden vibrierte erneut, doch diesmal schwächer, als würde etwas weit weg verschwinden.

„Wir müssen hier raus“, sagte John.

Joy steckte die Platte in ihre Jackentasche. Die Kälte des Metalls brannte sich in ihre Haut, als wollte es sicherstellen, dass sie es nicht vergessen würde.


Epilog – Drei Wochen später
Ein neuer Ort. Neue Straßen, neue Geräusche. Joy und John lebten nun in einer kleinen Wohnung in einer anderen Stadt.
Keine Nachricht von Marie.

Die Metallplatte lag in der Schublade ihres Schreibtischs, eingewickelt in ein Stück Stoff. Manchmal nahm Joy sie in die Hand, nur um zu spüren, wie ihr Herzschlag sich veränderte.

Am Horizont, auf einer verlassenen Wiese, wuchs eine junge Weide. Ihre Äste bewegten sich im Wind, als würden sie jemandem zuwinken.

Joy wusste, dass sie frei war, die Spur von 9.4.1 zu verfolgen – oder nicht.
Doch tief in ihr wusste sie auch: Das Muster hatte noch nicht das letzte Wort gesprochen.

ENDE!