📘 Ein vergilbtes Foto, gefunden auf einem Flohmarkt in den 1970er Jahren.
Darauf: ein Mann, erhängt an einem knorrigen Baum. Dahinter ein verlassenes Bauernhaus.
Für Tom ist es mehr als nur ein Bild – es ist ein Rätsel, ein Ruf. Gemeinsam mit seiner Freundin Lucy folgt er der Spur des Fotos und stößt auf ein vergessenes Experiment: das Muster.
Ihre Suche führt sie in das Innere des Bauernhauses, in einen Geheimgang und schließlich zu Halle 1 – einem Ort, der nicht sein dürfte. Je länger sie dort verweilen, desto dünner wird die Grenze zwischen Realität und Wahnsinn. Stimmen flüstern, Erinnerungen zerfallen, und der Weg hinaus verschwindet.
Was als Recherche beginnt, endet als Abstieg in eine Welt, aus der es keine Rückkehr gibt.
Kapitel 1 – Das Foto
Der Flohmarkt roch nach feuchtem Holz und kaltem Tabak. Zwischen zerknitterten Beatles-Postern, staubigen Romanheften und einer Kiste mit alten Schallplatten blätterte Tom achtlos in einem Stapel vergilbter Fotografien. Hochzeitspaare, verschwommene Kindergeburtstage, Urlaub am See – eingefrorene Leben, die längst niemanden mehr interessierten.
Dann blieb seine Hand an einem Bild hängen.
Ein Mann, aufgehängt an einem knorrigen Baum. Der Körper schlaff, der Kopf zur Seite gefallen, die Augen nicht zu erkennen. Hinter der Leiche ragte ein Bauernhaus auf, alt, mit schiefen Fensterläden und einer verfallenen Scheune daneben.
Tom spürte, wie sich eine Kälte in seinem Nacken ausbreitete. Das Foto war gestochen scharf, fast zu klar für eine gewöhnliche Aufnahme aus den frühen Siebzigern.
„Willst du den ganzen Stapel oder nur das eine?“, fragte der Verkäufer, ein hagerer Mann mit Schiebermütze, der seine Zigarette mit zitternden Fingern hielt.
„Nur das.“ Toms Stimme klang brüchig.
Er bezahlte und steckte das Bild in seine Jackentasche. Beim Weggehen hatte er das Gefühl, als würde die abgebildete Gestalt im Wind leicht schwingen. Aber vielleicht war es nur sein Herzschlag, der das Bild beben ließ.
Kapitel 2 – Die Zweifel
„Du starrst das Ding jetzt seit zwei Stunden an.“
Lucys Stimme riss Tom aus seiner Konzentration. Er sah auf, die Lupe noch in der Hand, und blinzelte ins grelle Neonlicht.
„Es ist nur ein altes Foto, Tom.“
„Nur ein Foto?“ Er deutete auf das Bild, das flach auf dem Schreibtisch lag. „Sieh doch hin. Der Kerl hängt nicht einfach nur da. Schau auf den Baum. Die Maserung, das Muster… das sieht aus wie ein Zeichen.“
Lucy trat näher, beugte sich über die Tischkante. Sie roch nach Regen und Straßenstaub, hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Einen Moment lang musterte sie das Foto, dann schüttelte sie den Kopf.
„Du siehst Gespenster. Wahrscheinlich ist das irgendein schlechter Scherz.“
Doch Tom ließ nicht los. „Nein. Es fühlt sich echt an. Als würde das Bild etwas zurückhalten. Als würde es mehr zeigen wollen, als man sehen darf.“
Kapitel 3 – Der Ort
Die Bibliothek roch nach Staub und Leder. Tom und Lucy wühlten sich durch Atlanten und Bildbände, vergleichten Bauernhäuser, Dächer, Schornsteine.
Stunden vergingen, bis Lucy plötzlich innehielt. „Tom … sieh dir das an.“
Auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme in einem Regionalführer ragte ein Haus am Waldrand auf – mit dem gleichen Knick im Dachbalken, den gleichen schiefen Fensterläden. Daneben: ein einzelner, knorriger Baum.
Unter dem Bild stand: „Ehemaliger Hof am Rand von Haversloh. Seit einem Brand 1969 verlassen.“
Tom lächelte fiebrig. „Das ist es. Wir haben es gefunden.“
Kapitel 4 – Der Weg ins Dunkel
Tom schlief kaum noch, sprach fast nur noch von dem Foto, von Haversloh. Sein Zimmer verwandelte sich in eine Zentrale aus Notizen, Landkarten, Zeitungsfetzen.
Lucy beobachtete ihn mit wachsender Sorge. „Tom, du verlierst dich in dem Ding.“
„Oder ich finde mich“, erwiderte er leise.
Schließlich gab sie nach, stieg zu ihm ins Auto. Nur damit er nicht allein in dieses verlassene Bauernhaus ging.
Das Haus lag wie ein Schatten am Waldrand. Die Tür hing schief in den Angeln, der Baum daneben ragte schwarz in den Himmel. Tom trat ohne Zögern ein. Lucy folgte widerwillig – hinein in den Geruch von Moder und etwas, das älter war als Verfall.
Kapitel 5 – Unter der Erde
Im Flur fand Tom eine verborgene Stelle in der Wand. Ein Kerzenhalter drehte sich wie ein Schlüssel, und eine schmale Tür öffnete sich in die Dunkelheit.
Der Gang dahinter führte in eine feuchte Kammer. Regale, alte Akten, vergilbte Dokumente.
Auf einer Seite stand in sauberer Schrift:
„Projekt: Muster – Phase I, Erhebung 1970.“
Lucy fröstelte. „Das klingt wie ein Experiment.“
An der Wand waren Kreise und Linien eingeritzt – Muster, die sich im schwachen Licht zu bewegen schienen.
Kapitel 6 – Das Flüstern
Zuerst war es nur ein Rauschen. Dann Worte.
„Geht … nicht … tiefer … Halle … eins …“
Die Stimmen kamen von überall und nirgends. Lucy presste die Hände auf die Ohren, doch es half nichts.
Eine Mappe fiel vom Regal. Auf dem Deckblatt: „Halle 1 – Zugang verboten.“
Tom hob sie auf. Seine Hände zitterten, seine Augen glänzten. „Das ist unsere Tür.“
Kapitel 7 – Die Akte
In der Mappe standen nüchterne Tabellen – Versuchspersonen, Beobachtungen. Doch dazwischen fanden sich handschriftliche Warnungen:
„Halle 1 ist keine Halle. Es ist eine Schwelle.“
„Wer eintritt, verliert den Faden.“
Auf einer Skizze war ein Baum gezeichnet, darunter eine Öffnung. Darunter die Worte: „Der Eingang liegt unter den Wurzeln.“
Lucy wollte weglaufen. Tom aber sah sie an, als hätte er seine Bestimmung gefunden.
Kapitel 8 – Die Wurzeln
Sie verließen die Kammer, hörten Schritte über sich, obwohl niemand da war.
Draußen stand der Baum, schwarz gegen den Himmel. Der Boden zwischen den Wurzeln war aufgewühlt.
Die Stimmen flüsterten: „Kehrt um … wer Halle 1 betritt, kehrt nicht zurück … der Wahnsinn bleibt …“
Tom kniete sich hin, legte die Hand auf den feuchten Boden. Ein Spalt öffnete sich. Kalte Luft strömte heraus.
Lucy packte ihn am Arm. „Wenn du da hineingehst, verliere ich dich.“
Tom flüsterte: „Vielleicht finde ich mich dort erst.“
Dann krochen sie beide hinein.
Kapitel 9 – Halle 1
Die Halle war unmöglich groß. Wände, die wie pulsierende Haut wirkten, ein Boden, der ihre Schritte verschluckte.
Lucy fühlte sich beobachtet. Tom dagegen lächelte, als hörte er Musik.
„Sie kennen meinen Namen“, murmelte er.
Lucy schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen. „Hier ist nichts, Tom. Gar nichts.“
Doch sie hörte selbst ein Wispern: „Du wirst allein zurückkehren.“
Die Halle sprach zu beiden – und trennte sie zugleich.
Kapitel 10 – Tiefer
Tom sah Gestalten, die Lucy nicht sah. Den Gehängten vom Foto. Schatten, die ihn riefen.
Lucy hörte die Stimme ihrer Mutter, die längst tot war. „Komm heim, Lucy … es ist Zeit.“
Die Halle nahm ihre Erinnerungen, verzerrte sie und warf sie zurück wie Spiegelungen in trübem Wasser.
Tom sank auf die Knie. „Das Muster … alles zieht sich hier zusammen.“
Lucy flüsterte: „Nein. Wir verlieren uns hier.“
Kapitel 11 – Der Bruch
Sie erkannten einander kaum noch.
Lucys Lampe zuckte und zeigte für Sekunden Toms Gesicht – verzerrt, fremd, als wäre es nicht mehr seines.
„Du bist nicht Tom“, stieß sie hervor.
Er lachte rau. „Und du bist nicht Lucy. Oder?“
Die Halle flüsterte im Chor: „Vertraut niemandem …“
Ein Riss ging durch ihr Vertrauen, und die Dunkelheit nutzte ihn.
Kapitel 12 – Die Entscheidung
Ein Tor erschien vor ihnen, leuchtend, verheißungsvoll.
„Der Ausgang!“, rief Tom.
Lucy stürzte hindurch – und stand wieder am Anfang, in der Kammer mit den Akten.
Sie schrie. „Es gibt keinen Ausgang!“
Tom hielt das Foto hoch. Doch der Gehängte war nun er selbst.
Lucy sah ihr eigenes Bild – auch sie hing am Baum.
Die Halle flüsterte: „Ihr gehört uns.“
Kapitel 13 – Die Stille
Zeit verlor jede Bedeutung. Hunger, Müdigkeit, Schmerz – alles wurde zu Staub.
Manchmal hielten Tom und Lucy sich noch an den Händen. Doch ihre Augen waren leer.
Ihre Stimmen flüsterten, Worte ohne Sinn, wie das Echo der Halle selbst.
Dann verstummten auch diese.
Die Halle lauschte.
Und schwieg.
ENDE!