Vier Wochen lang herrschte Stille in den Hallen.
Vier Wochen ohne Spur von Marie.
Als sie zurückkehrt, bringt sie ein Fragment mit – schwarz, facettiert, und eng mit dem Herz des Musters verbunden.
Joy und John folgen ihr tiefer als je zuvor, in Hallen, die nicht stillstehen und Wände, die zuhören.
Etwas lauert dort, unsichtbar, aber nah, und es kennt Maries Herzschlag.
Je weiter sie vordringen, desto klarer wird: Nur eine von ihnen kann den Knotenpunkt stabilisieren.
Und dieser Weg kennt kein Zurück.
In einer Welt aus Lichtlinien und Schattenfäden entscheidet sich, ob das Muster bestehen bleibt – und welchen Preis es fordert.
Kapitel 1 – Vier Wochen Dunkel
Vier Wochen waren vergangen, seit die Halle in sich zusammengefallen war.
Vier Wochen ohne ein Lebenszeichen aus den tieferen Ebenen des Musters.
Joy hatte gezählt – zuerst die Tage, dann die Nächte, dann nur noch das Gefühl, dass Zeit bedeutungslos geworden war. Sie und John hatten sich in den oberen Hallen gehalten, dort, wo die Strukturen stabil waren und die Linien im Boden nicht flackerten.
Marie war in dieser Zeit verschwunden. Kein Wort, keine Nachricht, nur Spuren in den Aufzeichnungen: verschlüsselte Logs, Standortmarken, die mitten in leeren Sektoren endeten.
„Sie wird zurückkommen“, sagte John eines Abends, als sie in einer stillgelegten Galerie saßen.
„Oder sie ist längst tot“, entgegnete Joy.
Dann, in dieser Nacht, änderte sich das Muster. Die Linien im Boden zogen sich wie Adern zusammen, pulsierten einmal – und aus der Ferne kam ein leises, gleichmäßiges Klopfen.
Joy und John folgten dem Klang durch einen gewundenen Gang. Hinter einer Biegung stand Marie.
Abgemagert, die Augen zu hell, ein Ausdruck zwischen Erleichterung und Entschlossenheit.
„Wir haben keine Zeit“, sagte sie, ohne Begrüßung. „Ich habe etwas gefunden. Und es wird uns alle kosten, wenn wir nicht sofort handeln.“
Kapitel 2 – Das, was bleibt
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Nur das leise Knirschen ihrer Schritte auf dem staubigen Boden füllte den Gang.
Marie führte sie tiefer, immer tiefer – an Hallen vorbei, deren Wände seltsam gekrümmt waren, als hätte etwas versucht, sie von innen heraus aufzubrechen.
„Sag uns, was du gefunden hast“, forderte Joy schließlich.
„Es ist leichter, es zu zeigen“, erwiderte Marie.
John blieb einen Schritt zurück, musterte sie. „Vier Wochen kein Wort. Und jetzt tauchst du auf, mit einem ‘Wir müssen sofort los’? Das ist nicht leicht zu schlucken.“
Marie blieb stehen, drehte sich zu ihnen um. „Ich hatte Gründe. Und ja, ich hätte mich melden können. Aber wenn ihr seht, was ich gesehen habe, werdet ihr verstehen, warum ich es nicht getan habe.“
Sie erreichten eine schmale Tür, kaum zu erkennen im Muster der Wand. Marie legte die Hand auf den kalten Stein – Linien aus Licht breiteten sich von ihren Fingern aus, verzweigten sich, bis die ganze Wand pulsierte.
„Das reagiert auf dich“, stellte Joy fest.
„Weil es mich kennt.“
Die Tür glitt auf. Dahinter lag ein Raum, der wie eine eingefrorene Welle wirkte – Wände, Boden und Decke schienen aus flüssigem Glas zu bestehen, erstarrt in einer einzigen Bewegung.
In der Mitte schwebte ein Objekt, schwarz und facettiert, wie ein Stein, der das Licht verschluckte.
„Das ist alles, was bleibt“, sagte Marie. „Und wenn wir es verlieren, fällt mehr als nur das Muster.“
Kapitel 3 – Opferlinien
Der Raum war still, als hätte er seit Jahrhunderten auf sie gewartet.
Marie trat als Erste auf das schwebende Objekt zu. Jeder ihrer Schritte ließ feine Risse im gefrorenen Glasboden aufleuchten, als würde der Raum selbst reagieren.
„Fass es nicht an“, warnte John.
„Ich muss“, entgegnete sie ruhig.
„Was ist es?“ fragte Joy.
„Ein Kernfragment. Kein gewöhnlicher Hallenspeicher. Es ist… ein Anker. Entfernst du ihn, verschiebt sich das gesamte Netz.“
John runzelte die Stirn. „Und das willst du tun?“
Marie lächelte schwach. „Manchmal muss man etwas zerstören, um es zu retten.“
Joy spürte einen Knoten im Magen. „Du redest, als wärst du bereit, den Preis selbst zu zahlen.“
„Vielleicht ist das der einzige Grund, warum ich noch hier bin.“
Ein leises, tiefes Grollen vibrierte durch den Raum. Die Risse im Boden wurden breiter.
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Marie. „Und ich noch weniger.“
Kapitel 4 – Das Geräusch hinter der Wand
Das Grollen verklang, aber die Stille danach war gespannt, wie ein Seil kurz vor dem Reißen.
Joy spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.
„War das eben…?“
„Nicht die Halle selbst“, unterbrach John. „Etwas anderes.“
Marie trat vom Kernfragment zurück. „Die Struktur reagiert nicht nur auf uns. Wir sind nicht allein hier.“
Ein kaum hörbares Kratzen schlich sich in die Stille – zuerst so leise, dass Joy dachte, es sei Einbildung. Dann wieder, gleichmäßig, langsam.
Johns Blick glitt zur Wand. „Von außen.“
Marie nickte. „Es sucht nach einem Weg hinein.“
Das Kratzen verstummte. Einen Herzschlag lang war es wieder still.
Dann, tief in der Wand, ein dumpfer Schlag.
„Beeilen wir uns“, sagte Marie.
Kapitel 5 – Der erste Blick
Das Kratzen kehrte zurück.
Langsamer diesmal, fast wie das ungeduldige Tippen einer unsichtbaren Hand.
Joy hielt den Atem an.
Ein dünner Riss zog sich von der Wand zum Boden hinunter, glühend wie erhitztes Metall.
„Zurück“, sagte John.
Der Riss stoppte. Dahinter, im flackernden Licht, zeichnete sich etwas ab – keine klare Form, nur ein Schatten, der sich nicht mit dem Raum bewegte.
Dann bewegte er sich.
Zu schnell.
„Hast du das gesehen?“
„Ja“, sagten John und Marie gleichzeitig.
Marie fügte leise hinzu: „Und es hat uns gesehen.“
Kapitel 6 – Antwort aus der Wand
Die Halle hielt den Atem an.
Marie legte die Hand auf das Fragment. Das Summen wurde tiefer, vibrierte bis in den Boden.
Der Riss in der Wand glühte wieder – im Rhythmus von Maries Herzschlag.
„Es will wissen, wer ich bin.“
Das Licht flackerte, eine Form schob sich an die Oberfläche. Kein klares Gesicht, nur Bewegung, Flüssigkeit.
Ein Atemzug aus Metall.
„Es spricht…“
„Nicht mit euch“, sagte Marie. „Nur mit mir.“
Dann verstummte es. „Jetzt weiß es, dass ich hier bin. Und es wird nicht gehen, bevor es bekommt, was es sucht.“
Kapitel 7 – Risse im Vertrauen
Joy spürte die Spannung in der Luft.
„Es hört uns zu“, murmelte sie.
Marie hielt das Fragment, das Licht pulsierte in ihrem Rhythmus.
„Wie oft hast du es schon aktiviert?“ fragte John.
„Oft genug, um zu wissen, dass es funktioniert.“
„Und gefährlich genug, dass es uns alle mit in den Abgrund reißen könnte?“
„Es gibt keinen Abgrund, John. Nur eine Schwelle.“
Das Kratzen kam wieder, schneller.
Marie legte die Hand auf das Fragment, und es verstummte sofort.
„Es reagiert nur auf mich. Und das ist der Grund, warum ich euch nicht alles sagen kann.“
Kapitel 8 – Das Echo
Der Gang war schmal, das Licht im Boden schwach.
Marie stolperte, das Fragment glitt aus ihren Händen – blieb schwebend in der Luft.
„Marie!“ John stützte sie.
Ihr Gesicht war blass, Schweiß auf der Stirn.
Das Fragment flackerte. Ein Echo vibrierte im Gang – ein Herzschlag, nicht von ihr.
„Das Muster… spiegelt sie“, murmelte John.
„Je länger ich es halte, desto mehr erkennt es mich. Bald wird es keinen Unterschied mehr geben zwischen mir und ihm.“
Joy und John tauschten einen Blick.
Das Ding wusste jetzt, wie Marie klingt.
Kapitel 9 – Der Punkt ohne Rückkehr
Die Halle vor ihnen war schwarz und pulsierend.
„Es lässt sich nur stabilisieren, wenn jemand den Knotenpunkt von innen verbindet“, sagte Marie.
„Und was passiert mit diesem Jemand?“
„Es gibt kein Zurück.“
„Dann finden wir einen anderen Weg.“
„Es gibt keinen. Ich bin die Einzige, die der Kern erkennt.“
Das Kratzen wanderte an den Wänden entlang.
Marie ging weiter ins Zentrum.
„Alles, was jetzt noch zählt, ist, dass ihr lebend rauskommt.“
Kapitel 10 – Letzter Faden
Der Knotenpunkt pulsierte wie ein Herz.
Marie trat hinein, Linien legten sich um sie wie Fäden.
Ein Riss in der Wand brach auf – die Präsenz stürzte vor.
„Unter Halle Eins liegt der Ursprung“, rief sie. „Sucht ihn, wenn das Muster wieder bricht.“
Das Fragment zersplitterte in Licht, floss in das Netz. Die Präsenz wurde hineingezogen.
Ein letzter Blick von Marie – „Vergesst mich nicht.“
Ein Schlag. Licht weg. Halle leer.
Die Linien im Boden glommen dunkler.
John und Joy standen allein.
„Sie hat’s gewusst“, flüsterte Joy.
„Ja. Und trotzdem ist sie gegangen.“
Tief unten pulsierte eine einzelne Linie – langsam, beharrlich. Wie ein Echo.
ENDE!